Von Olivia Jurczyk, Luca Watermann, Tobias Becker

Die Oberhausener Kurzfilmtage, das älteste Kurzfilmfestival der Welt, zeigt jährlich bis zu 500 Filme aus über 90 Ländern. 1954 gegründet, setzen sich die Oberhausener Kurzfilmtage seit jeher über politische Grenzen hinweg und bieten jungen Filmemacher*innen Austauschmöglichkeiten und geistige Freiheit. Hochwertige Filmprogramme, Themenspecials und Podiumsdiskussionen schaffen eine cineastische Öffentlichkeit und ermöglichen Diskussionsräume. Mit einem nicht-kommerziellen Kurzfilmverleih, einem umfangreichen Archiv sowie der Organisation deutscher, internationaler, NRW- und Musikvideo- Wettbewerbe, werden die Kurzfilmtage ihrem Anspruch gerecht aktuelle Entwicklungen auszustellen, voranzutreiben und neue Trends und Künstler*innen zu entdecken. Unter Anderem begannen Filmemacher*innen wie Isaac Julien, Martin Scorsese, Agnes Varda oder Francois Truffaut ihre Karrieren in Oberhausen. Mit dem Oberhausener Manifest wurden zudem 1962 zentrale politische und ästhetisch Impulse für die deutsche Filmlandschaft und die Filmförderung gesetzt. Dem wird auch der diesjährige Gewinnerfilm des Deutschen Wettbewerbs, die bolivisch-deutsche Koproduktion Hay un dolor von Froilán Urzagasti, gerecht.
Der Film zeichnet laut Jurybegründung in ruhigen, traum-ähnlichen und assoziativ verknüpften Szenen ein vielschichtiges Bild der Diasporaerfahrung von Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland und zentriert dabei das Gefühl von Fremdheit und das Begehren nach Zugehörigkeit seiner Protagonisten. Die letzten Szenen des Films zeigen drei Gespräche zwischen jeweils zwei sich fremden Menschen mit Migrationserfahrung an einem Bahnhof, welche nostalgisch und sentimental auf Anekdoten, Traditionen und Erinnerungen ihrer Jugend in ihrem Herkunftsland zurückblicken und dabei die schmerzhafte Leere, die durch die Trennung von der Heimat zurückbleibt, zum Ausdruck bringen. Ein Beispiel dafür stellt ein Moment dar, in dem ein ghanaischer Mann eine bolivische Frau „sister“ nennt, worauf sie berührt weint, weil sie diese Ansprache an den warmen geschwisterlichen Umgang in ihrem Herkunftsland erinnert. Erol Yildiz argumentiert in seinem Essay „Postmigration“, dass eine postmigrantische Perspektive bedeutet, den Blick auf migrantische, zuvor verdrängte, Lebensrealitäten und Geschichten zu richten und Migrationserfahrungen sichtbarzumachen und so zu normalisieren. Gesellschaftliche Verhältnisse sollen nach Yildiz transformiert werden, indem der Migrationsdiskurs stärker in die Mitte der Gesellschaft gerückt wird und diverse Gegennarrative zu hegemonialen Repräsentationen des Mainstreams konstruiert werden. Urzagastis Film kommt Yildiz‘ Forderung besonders in seinen letzten Szenen nach, in denen die Begegnungen von Menschen unterschiedlicher ethnisch-nationaler Identitäten ein Idealbild einer pluralistischen Gesellschaft schaffen, in der Barrieren von Sprache und Herkunft abgebaut und durchlässig werden. Die pädagogische Qualität des Films liegt in seiner somatischen Erfahrbarkeit, indem Zuschauer gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur sehen, sondern spüren oder gar selbst durchleben können. Genau dies ist in den finalen Bahnhofsszenen des Films sichtbar, wo den Figuren das Gefühl von Fremdheit und Isolation durch die geteilte migrantische Erfahrung abfällt.
Das Screening des Films im Festivalprogramm ermöglicht es den Zuschauenden genau diese postmigrantischen Erfahrungen nachzuempfinden und den Migrationsdiskurs aus einer anderen Perspektive zu sehen, die einen Gegensatz zum offiziellen Migrationsdiskurs abbildet.
Hay un dolor zeigt exemplarisch, wie der Austausch und das Teilen von Migrationserfahrungen im Rahmen einer cineastischen Öffentlichkeit, den kulturpolitischen Aufgaben und Zielen von Filmfestivals entspricht.
Ein Filmfestival fordert sein Publikum heraus ermöglicht eine Öffnung gegenüber Neuem und unbekannten Positionen. Es schafft Neugier und Toleranz, fördert ästhetische Bildung, die Entwicklung von Medienkompetenz und schafft Zugang zu kulturellen Angeboten für ein möglichst breites Publikum.
Hoffmann, Hilde (2024). Film Festivals im Ruhrgebiet. Wo, wenn nicht hier? In: Forum Geschichtskultur 02/2024, S.41-43. https://www.kurzfilmtage.de/de/festival/wettbewerbe/#t4134, aufgerufen am 17.05.2025.
Yildiz, Erol (2022). Postmigration. In: Bartels, I., Löhr, I., Reinecke, C., Schäfer, P., & Stielike, L. Inventar der Migrationsbegriffe. Institut Für Migrationsforschung Und Interkulturelle Studien (IMIS).